Da "Kultur" schwer wahrnehmbar ist, ist sie auch schwer zu definieren. Bestimmte Einstellungen, intelektuelle oder künstlerische Schritte sind charakteristisch für bestimmte ethnische oder soziale Gruppen und somit kulturell definierend. Wenn eine kulturelle Gruppe (durch ihre Bedeutung oder Ghettoisierung) nicht mehr von einer anderen abhängig ist und sich selbst genügt, werden ihre Eigenheiten schließlich nicht mehr von der Gruppe wahrgenommen, da sie zur Norm geworden sind. So sind manche Frauen beleidigt, wenn man ihnen nicht die Tür öffnet, während andere sich weigern würden irgend eine Schwelle vor ihrem Mann zu übertreten. Die dominierende Kultur einer Welt, egal welcher Größenordnung (sei es eine Straße, eine Wohnung, eine Kirche oder auch ein Land, mehr noch eine halbe Erdkugel) definiert die gesellschaftlich angemessene Haltung, die trotz ihrer Besonderheit oft jedem einzelnen genauso kategorisch erscheint, wie Mord oder Inzest. Im Ausland zu leben ist eine besonders bereichernde Erfahrung: man lernt eine andere Kultur kennen und hat gleichzeitig genug Abstand, um die eigene mehr zu schätzen. Ich persönlich bin mir meiner eigenen Kultur durch das Leben in Deutschland bewußt geworden, während ich die deutsche Kultur in mannigfaltigsten, unerwarteten Situationen entdeckte. Die "Bar Jeder Vernunft" ist eher ein Tempel der Berliner Kultur, aber nichtsdestotrotz habe ich dort meine Theorie der nationalen Kultur entwickelt. Hat die Show begonnen, besteht meine Arbeit darin, die Ungestörtheit der Zuschauer und Künstler zu gewährleisten, daß heißt, mich um Außenstehende zu kümmern, die sich informieren oder einfach nur schnorren wollen. So fand sich eines abends, eine halbe Stunde vor dem Ende der Vorstellung ein konservativer Herr in den sechzigern ein, er trug einen marineblauen Kaschmirmantel. Seine Aktentasche legte die Vermutung nahe, daß er um 22:30 Uhr direkt von der Arbeit kam. Nach einer kurzen Unterredung, wußte ich daß er seine Frau abholen, und nach hause begleiten wollte und daß er geduldig im Vorzelt, das der "Bar Jeder Vernunft" als Foyer dient, warten würde. Der Eingang des Hauptzelts, ein leuchtend roter Moltonvorhang - der ein Bereich markiert, der nur mit einer Eintrittskarte betreten werden kann - wird von zwei robusten Stühlen undefinierbaren Stils flankiert, deren Leopardenpolster mich vage an Kolonialmöbel erinnern. Für meinen späten Besucher jedoch stellten sie etwas völlig anderes dar! Der, zu Unrecht, zwielichtige Ruf, den das Haus bei schlecht Informierten genießt, hat es oft auf eine Stufe mit irgendwelchen geschmacklosen Etablissements gestellt.

Diese Stühle erinnerten den alten Herrn keinesfalls an Kolonialzeiten, sondern bestimmt an etwas Vulgäres, das eigentlich in ein Bordell gehört. Die Müdigkeit nach einem so langen Arbeitstag führte ihn dazu, mich zu fragen, ob er in einem dieser Stühle Platz nehmen dürfe, um diesen Moment der Ruhe genießen zu können. Mir schien die Frage eher eine Geste der Höflichkeit und ich antwortete: "Bitteschön mein Herr!" Nachdem er sich gesetzt hatte, hellte sich das erschöpfte, abgespannte Gesicht plötzlich auf: er hatte es gewagt! Seine graue, trübe Alltagswelt war durch die Berührung mit der Phantasie durcheinandergebracht worden. Er befand sich mitten im Bühnenbild, auf dem Platz eines Schauspielers, er war ein Künstler!
Soviel Kühnheit durfte nicht ungestraft bleiben, dem Glück folgte die Panik. Seine beiden Hände, von Altersflecken bedeckt - in gewisser Weise passend zu den Bezügen - krallten sich verzweifelt an die Stuhlbeine, sein Gesicht verzerrte sich zu einer verschreckten Grimasse und mit zitternder Stimme fragte er mich: "Ist das stabil?" Ich verstand nicht sofort was er mir sagen wollte, aber ich fürchtete ihm ginge es nicht gut und wollte schon Hilfe besorgen. Ich sagte: "Wie bitte?" Verzweifelt wiederholte er: "Der Stuhl! Ist er stabil?" Aber sicher mein Herr, das ist zum Sitzen gedacht!" Etwas erleichert aber nicht ganz zuversichtlich, der anfängliche Moment des Reizes schien weg! Gedanken wie etwa "Und wenn mich ein Bekannter hier sieht?" oder "Wie stehe ich da, wenn der Stuhl am Ende doch nicht hält?" mußten ihm durch den Kopf gegangen sein; die verlorene Unbekümmertheit sollte sich nicht wieder einstellen, die kurze Atempause vom Alltagsstress war verdorben! Das unerklärliche Benehmen meines Gegenübers machte mich stutzig. Das Ganze hatte kaum mehr als eine Minute gedauert und ich versuchte immer noch zu verstehen, was passiert war, als mir plötzlich ein Licht aufging: der Stuhl war lustig, also konnte er unmöglich stabil sein! Dieser Mann schien mir jetzt wie eine Karikatur des germanischen Geistes. Die Dinge müssen stabil sein, sie müssen so funktionieren wie sie gedacht sind und zwar so präzise und lange wie möglich. Dieses stabile Universum, in dem Überraschungen nicht willkommen sind, streift seltsammerweise ein lustiges Universum, in dem man während seiner Freizeit Abenteuer erlebt und wo alles nicht länger als ein Lachen dauert. Erheitern gilt als Entschuldigung für mangelnde Stabilität. Weder stabil, noch amüsant sein, heißt auf einen Platz im deutschen Kulturraum verzichten. Wenn das "Stabile" eher dem Bereich Arbeit zuzuordnen ist und das das "Lustige" der Freizeit, so gibt es doch zahllose Wechselbeziehungen zwischen beiden, wie der Stuhl beweist, es gibt erheiternde Dinge die nicht weniger stabil sind. Zum Beispiel ich: auch wenn ich einen niedlichen Akzent habe und mein Verhalten manchmal unerwartet scheint - was mich als "lustig" kategorisiert-, schätze ich die Stabilität , ja ich brauche sie sogar. Seit 15 Jahren ziehe ich mich gleich an, benütze Parfum einer Marke und bin einem Elektonikhersteller treu geblieben. Ganz zu schweigen von meinen sozialen Gewohnheiten, es sind die selben!
Philippe Claude übersätzt von Alexzandra Ahlborn (April 2000)